May 07, 2004

Maigrüße aus Sao Paulo

Ganz herzliche Grüße zum Maibeginn sendet Euch Axel!

axelchegada1.jpg

So wie dieser Monat angeblich alles neu machen soll, so beginnt auch bei mir
jetzt eine voraussichtlich 2monatige Phase neuer Erfahrungen, Eindrücke und
Erlebnisse. Vor zwei Tagen bin ich von Rio de Janeiro nach Sao Paulo
übergewechselt, wo ich als Volontär in einem Kulturprojekt angeheuert habe.

In Rio de Janeiro habe ich seit fast zwei Jahren wieder brasilianische Luft
geschnuppert und versucht Anschluss an meine Erinnerungen von damals zu
finden. Gleich vorweg: es war schwieriger als ich dachte.

Ich wurde sehr nett aufgenommen und habe auch ziemlich bald wieder alte
Freunde getroffen und alles war fast wie damals. Nur dass ich irgendwie das
Gefühl hatte, zwar an dem gleichen Ort zu sein und dennoch ganz weit davon
entfernt. Es ist schwierig zu erklären, aber irgendwie hat sich Rio in der
Zeit meiner Abwesenheit verändert und natürlich bin auch ich nicht der
gleiche geblieben. Erst dachte ich es liegt am Herbst, dass die Stimmung in
der Stadt gedämpfter ist und sicher stimmt das auch. Dann nach einer Weile
und etlichen Gesprächen mit Bekannten wurde mir allerdings klar, das es noch
einen anderen Grund für mein unbestimmtes Gefühl gab.

Die Stadt und vor allem ihre Einwohner haben in den letzten anderthalb
Jahren eine schwere Zeit durchlebt. Die Gewalt auf den Straßen ist
sprunghaft angestiegen und es gab in dieser Zeit zwei so genannte "Tage der
Angst". An diesen Tagen wurde die Stadt komplett lahm gelegt. Es gab zwei
Revolten in dem Hochsicherheitsgefängnis Rios und im Anschluss daran
befahlen die Bosse der organisierten Drogenkommandos die Schließung
sämtlicher kommerziellen und öffentlichen Einrichtungen der Stadt.
Militärpolizei kontrollierte die Straßen, Busse und Autos wurden angezündet
- der reinste Machtkampf.

Leidtragende waren natürlich die Einwohner Rios und zwar sowohl die der
wohlhabenden Südzone als auch der unzähligen Favelas und "Comunidades" der
Stadt. Ich habe das zwar alles von Berlin aus "online" in den Zeitungen
mitbekommen, aber irgendwie war ich so naiv zu glauben, dass danach wieder
alles so war wie vorher. Nun wurde ich eines besseren belehrt. Dies ist
natürlich meine subjektive Sicht und jemand anders mag sagen, dass das alle
paar Jahre mal vorkommt und sich eigentlich nichts groß ändert. Das mag
sein, aber ich habe vermeint zu spüren, dass die Stadt viel verschlossener
ist. Das heißt, dass nachts weniger Leute auf die Straße gehen, die
Restaurants leerer sind und das generell die Menschen viel mehr Angst haben
als damals. Ich habe selbst erlebt, dass die Leute zusammenzucken, wenn es
irgendwo ein lautes Geräusch gibt und sei es auch nur, dass auf einer
Baustelle Schutt abgeladen wird. Es könnte ja ein Schuss oder ein Gewaltakt
sein. Natürlich legt sich dann diese unterschwellige Spannung auch auf die
Atmosphäre in den Straßen Rios.

Hinzukommt, dass in den Tagen in denen ich dort war ein ziemlich heftiger
Krieg in der größten Favela Rios und Lateinamerika tobte. In Rocinha, so
heißt dieser Stadtteil bekämpften sich zwei verfeindete Lager ein und des
selben Kommandos. Die Militärpolizei griff ein und es kam zu heftigen
Gefechten, in dessen Folge einige unschuldige Bewohner erschossen wurden. Da
Rocinha auf dem Berg zwischen einem reichen Viertel (barra) und der Stadt
liegt, wurden die Einwohner diese Viertels quasi isoliert.
Viele, die über Ostern verreisen wollten, blieben lieber zu Haus und in der
Woche danach wurden des öfteren die Straße, die unterhalb des Berges an dem
Rocinha gelegen ist und der Tunnel, der die Verbindung zur Stadt herstellt
gesperrt. Das hat natürlich großes Aufsehen auch in den
Gesellschaftsschichten hervorgerufen, die sonst nur aus den Zeitungen vom
Krieg der Drogenkommandos erfahren. Das Thema war jedenfalls in aller Munde
und die Zeitungen und Fernsehjournale voll davon. Ich habe, so gut es ging
versucht, mich davon fern zu halten, was bedeutete, dass ich nicht einmal in
der ganzen Zeit, in der ich da war, die Modekooperative besuchen konnte, mit
der ich während meines Praktikums und später in Berlin zusammen gearbeitet
habe. (wens interessiert: www.coopa-roca.org.br

Da ich aber bei Tetê, der Direktorin CoopaRocas gewohnt habe, habe ich
natürlich alles aus erster Hand erfahren. Tetê war absolut unter Druck, denn
demnächst steht ein brasilianisches Event in London an, für das CoopaRoca
einige komplizierte Einzelteile herstellt. Gleichzeitig stand das Telefon
nie still, weil irgendwelche Journalisten, die sich sonst nie für die
Kooperative interessieren, ganz plötzlich Interviews mit Ihr machen wollten.
Und das alles in einer Situation, in der die Frauen der CoopaRoca nur
tagsüber aus dem Haus gehen können und sich nach Sonnenuntergang (18:00Uhr)
in die inneren Räume ihrer Wohnungen zurückziehen, aus Angst vor den Kugeln
der Schießereien.

Dennoch haben die Frauen bis auf wenige Ausnahmen, ihre Arbeit fortgesetzt -
eine unglaubliche Leistung! Ich kann mir selber kaum vorstellen unter
welchen Ängsten die Einwohner Rocinhas gerade leiden, denn der Konflikt ist
noch lange nicht ausgestanden. Gerade hat die Gouverneurin der Stadt 4000
bewaffnete Kräfte der nationalen Regierung angefordert. Noch ist keine
Entscheidung gefallen und ich will auch gar nicht daran denken, was das
bedeuten würde.

Soviel also zur "Cidade maravilhosa", der wunderbaren Stadt, wie Rio genannt
wird. Natürlich ist Rio nach wie vor schön und natürlich sind die Strände an
sonnigen Herbsttagen bis zum bersten gefüllt. Es gibt auch ein wunderbares
Licht am Abend und auch am Morgen, dass ich so noch nie gesehen habe. Rio
ist eine schöne Stadt und es leben sehr viele wunderbare, nette und offene
Menschen in ihr. Ich bin wieder mit dem Fahrrad an den Stränden
entlanggeradelt, habe ein Bad im Atlantik genommen, meinen weißen Bauch in
die Sonne gehalten und ein paar Cervejas beim Sonnenuntergang genossen. Ich
war auf dem Trödelmarkt und habe leckere Säfte getrunken, war im Kino, im
Theater und an regnerischen Tagen in Ausstellungen. All das war wunderbar
und es ist einfach toll, wenn man in einen Bus einsteigt und er Fahrer einem
eine viertel Stunde lang erzählt, was Brasilien für ihn bedeutet und warum
er nie, auch wenn es noch so viele Probleme gibt aus Rio wegziehen würde.

Es ist für mich wirklich ein Trauerspiel was gerade dort passiert und ich
kann nur hoffen, dass sich die Lage nicht noch verschlechtert. Wie es in
Zukunft weitergeht, weiß wohl niemand. Die Politik, die Justiz und die
Ordnungsorgane sind derzeit wohl eher machtlos.

Ich habe natürlich nicht nur "Urlaub" gemacht in Rio, dann wäre ich wohl
auch eher woanders hingefahren. Ich habe ja auch auf das ok gewartet, bei
dem Projekt mitmachen zu können, für das ich nach Brasilien geflogen bin.
Das hat allerdings etwas gedauert und so habe ich die Zeit unter anderem mit
einem Besuch an der Uni in Niteroí (auf der anderen Seite der Bucht)
gefüllt. Dort gibt es einen Studiengang, der ähnlich ist wie der, den ich in
Potsdam besucht habe. Ich sprach dort mit dem leitenden Professor und habe
den Weg für eine Kooperation geebnet. Vielleicht klappt es ja mit einer
Bewerbung für ein Hochschulaustauschprogramm. Niteroí ist auch wunderschön
und viel sicherer als Rio und trotzdem ist man in einer halben Stunde dort.
Also so ähnlich wie Potsdam und Berlin .

Durch Zufall lernte ich auch den neuen Leiter des ZDF-Studios in Rio kennen.
Als er erfuhr, dass ich in Berlin freiberuflicher Tontechniker beim gleichen
Sender bin, lud er mich zu einem Besuch ins Studio ein. Witzigerweise hatte
mich ein guter Freund ein paar Tage vorher auf einen alten
Mainzelmännchenzug aufmerksam gemacht, der auf dem Trödelmarkt in Rio
angeboten wurde, den wir zusammen besuchten. Ich kaufte ihn natürlich sofort
und brachte ihn bei meinem Besuch als Geschenk mit. Er trug reichlich zur
Erheiterung der Kollegen bei und hängt seit dem dort gut sichtbar und zur
Freude anderer Besucher.

So waren dies also reich gefüllte Tage mit Erlebnissen jeder Coleur und
natürlich fiel es mir auch dieses Mal schwer, Abschied zu nehmen. Aber ich
habe schon meine nächste Stippvisite geplant .

Jetzt bin ich aber erst mal in Sao Paulo, dieser unglaublichen riesigen
Stadt, Betonwüste, Buisinessarea und multikulturellen Metropole.

Ich wohne in einem Zimmer, dass ich in einem Häuschen einer
Goetheinstitutsmitarbeiterin angemietet habe. Es ist ziemlich laut, weil
draussen der Verkehr vorbeibraust und die Wände sehr dünn sind. Habe schon
"Ohrstöpsel gekauft, aber die helfen kaum. Vielleicht muss ich noch mal
umsiedeln, nur wohin? Meinen Tag verbringe ich von 9:30 bis 21:00 Uhr vor
dem Rechner in einem Großraumbüro an der Avenida Paulista (Businessmeile Sao
Paulos). Wen es interessiert, woran ich da mit beteiligt bin, der kann ja
mal auf die folgende Homepage gucken:

www.forumculturalmundial.org

Klingt alles sehr gut da und sieht klasse aus. Ich bin aber sehr gespannt,
obs auch so wird. Im Moment ist alles noch im Werden und keiner weiß genau,
was in den nächsten Wochen passiert. In jedem Fall gibt es viiiiiiiel zu tun
und meine nächsten zwei Monate werden wohl harte Arbeit sein. Ich freu mich
trotzdem drauf, auch wenn ich hauptsächlich auf eigene Kosten hier bin. Der
Chef des Büros hat deswegen schon gesagt, dass er denkt ich bin verrückt
. Ich glaube aber, dass ich was lernen kann und die Inhalte des Forums
interessieren mich sehr - das ist ja schon mal was. Ausserdem, habe ich mir
vorgenommen, etwas mehr die Stadt und Umgebung zu erkunden. Heute hab ich
schon mal angefangen und einen kleinen Markt besucht, wo auch eine Band
gespielt hat (einen Chorinho, für die Brasilienkundigen unter Euch).

Ich schicke Euch in einer extra Mail noch ein paar Bilder, damit die
visuelle und auch schöne Seite Brasiliens nicht zu kurz kommt und
verspreche, bald wieder von mir hören zu lassen. Die Bilder kommen in zwei
Portionen, damit die Mailbox nicht überschwappt . Ich hoffe, Ihr könnt
sie ansehen. (falls nicht: download und versuchen, sie von einem
Fotoprogramm aus zu öffnen) Ich pack auch eins vom ersten Mai dazu, damit
ihr seht, wies hier aussah. Gab es in Berlin wieder Maifestspiele? Hier hat
jedenfalls Gilberto Gil ein Konzert gegeben und es blieb weit gehend
friedlich. Eigentlich ein Wunder bei der Arbeitslosenquote...

Ich wünsche Euch allen einen ganz wunderbaren Frühling und Maimonat.
Irgendwie fehlt mir dieses neue frische Gefühl ein wenig, also denkt an
mich, wenn ihr Eure ersten Ausflüge ins Grüne unternehmt und abends die laue
Frühlingsluft genießt!!!

Ganz liebe Grüße aus Brasilien!
Euer Axel

PS: Wenn ihr keinen Bock auf den ganzen Kram hier habt, schickt eine kurze
Nachricht, dann nehm ich Euch aus dem Verteiler. Aber auch wenn ich
irgendwen vergessen haben sollte und natürlich auch sonst freu ich mich auf
Post von Euch !

axel at May 7, 2004 09:17 PM

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