November 02, 2001

Beschleunigte Zeit


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Glücklicher Herbergesuchender (Hans Peter)

Simone und Rodrgigo - Filmstudenten der UFF/Niteroi

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„...Das Leben kömmt mir vor - als eine Rennebahn....“ - so sprach einst ein Dichter und traf damit den Axel auf den Kopf. Von dieser Einsicht hab ich mich bis heute nicht erholt und selbst in fernen Gefilden holt sie mich immer wieder ein. So weile ich jetzt schon seit zweieinhalb Monaten auf der anderen Seite des großen Teichs und trotz, oder gerade wegen der vielen Erlebnisse saust die Zeit im Sauseschritt...
Nicht dass ich keine Momente zum Luftholen gehabt hätte, oder dass mich alles um mich in Hektik verfallen ließe – Nein! Auch wenn die ganze Welt verrückt zu werden droht, ich spüre in mir eine Ruhe wie nie zuvor.
Vielleicht ist einer der Gründe dafür, das ich gerade mitbekomme, was ich eigentlich will, was mir Spaß macht und mich fordert. Natürlich auch was ich nicht will, was mir fehlt und was ich noch gern machen würde.
Ich fang mal mit dem ersten an: Es macht mir einen Riesenspaß, durch diese Stadt zu fahren, mir die Menschen anzusehen, wie sie miteinander kommunizieren und in welchen Umfeldern sie leben. Wenn ich dann einige von Ihnen kennen lerne und sie mir etwas von dem erzählen, was sie machen oder mich nach meiner Herkunft fragen, spüre ich die Offenheit die dieses Land trotz vielen Widrigkeiten zu bieten hat. Eine große Hilfe um dies zu genießen sind dabei meine immer besser werdenden Sprachkenntnisse. Zwar fehlt mir nach wie vor ein umfassendes Vokabular und auch diverse grammatikalische Finessen entziehen sich bisher noch meinen Gehirnwindungen, aber ich kann mich mittlerweile doch recht gut im mitteltiefen Diskussions- und Meinungssumpf bewegen. Das ist natürlich wichtig wenn ich über das Favelaprojekt in Kontakt mit Kunst- und Kulturmachern komme, aber auch um Hintergründe über Geschichte und Kultur dieser Gesellschaft zu erfahren.
Leider war der letzte Monat spärlich mit dem gesegnet, was ich Erlebnisweltenfutter nenne, sprich ich habe mich ziemlich oft und ziemlich lange in geschlossenen Räumen, vor mehr oder weniger bunten rechteckigen Bildflächen aufgehalten. Das ist zwar ein unangenehmer aber wichtiger Teil einer guten „Kulturarbeit“ und nach dem ich in zäher Kleinarbeit Texte geschrieben und kopiert, CDs gebrannt und Werbematerial zusammengetragen habe, fühle ich mich jetzt doch recht stolz über das Ergebnis (siehe auch Foto): diverse Promopackages unseres Projektes >Die Kultur der Favela< für Kultureinrichtungen und –Institutionen in Deutschland, die dann hoffentlich ganz begeistert sind und Mode-, Tanz-, Theater-, Musik- und Filmveranstaltungen nach Deutschland einladen. Meine verbleibenden Stunden wollte ich dann natürlich nicht auch noch mit sitzen und schreiben verbringen und so kriegt Ihr erst jetzt wieder etwas von mir mit, dafür aber eine saftige Aufstockung des Fotoarchivs mit einigen Impressionen der letzten Wochen. Herauszuheben wäre hier mein Besuch São Paulos mit Wulfi, einem DJ und Geographen aus Kölle, der hier natürlich kräftig auf Plattenfang ging. Außerdem traf ich dort Michael Wesely wieder, der gerade zwei Wochen härtester Arbeit an einem Picturediscprojekt hinter sich hatte. Zusammen mit seiner hart geprüften brasilianischen Assistentin Gabriela und dem Soundkünstler Kalle Laar zog er durch die verstopften Strassen um signifikante Bilder zu machen, die dann mit den dazugehörigen Soundkulissen auf Vinyl gepresst werden (siehe auch www.soundmuseum.com). Meine Eindrücke von São Paulo lassen sich ziemlich kurz in wenige Worte fassen: grooooß, unübersichtlich, unkommunikativ, geschlossene Gesellschaft und Handy geklaut. Vielleicht hat diese Metropole neben negativen Eindrücken auch noch ein professionelles Arbeitsumfeld, eine interessante Kunst- und Musikszene zu bieten, die ist mir allerdings bei diesem Kurzbesuch verwehrt geblieben, zumal dieser auch auf ein verlängertes Wochenende fiel und alle Paulistas ans Meer geflohen sind. Dadurch war die Stadt angenehm ruhig. Trotzdem war ich recht froh, wieder in Rio zu sein und das Leben auf den Strassen und an den Stränden zu spüren. Der Sommer hat uns hier einige richtig heiße Tage bereitet, die ich leider nicht am Strand sondern wie zuvor erwähnt im gut gekühlten Institut verbrachte. Jedoch an einem Wochenende fuhr ich dann mit meinem Fahrrad die Strände entlang und liess mich ein bisschen rösten, wobei es wirklich nicht einfach war ein leeres Plätzchen zu finden, denn anscheinend kommen erst bei 35°C alle Cariocas aus ihren Höhlen und dann gibt’s Platzprobleme auf dem aufgeschütteten Sandstreifen zwischen Häusermeer und Atlantik. Ein weiteres einschneidendes Ereignis war die Ankunft Hans-Peters in Rio. Den studierten Kameramann lernte ich in meinen ersten Portugiesischstunden in Berlin kennen und schon damals entstand die Idee meinen längeren Aufenthalt hier für eine gemeinsame filmische Arbeit zu nutzen. Jetzt hat er es doch tatsächlich auch geschafft, für 6 Wochen hier herzukommen und mit viel Glück und Strategie werden wir in der kurzen Zeit einige kurze Kostproben liefern, von dem was wir hier mit entsprechendem Zeit und Finanzbudget abliefern könnten. Dazu haben wir uns in zahlreichen mehr oder weniger emotionalen Diskussionen für zwei Themen entschieden. Das erste soll eine kurze, witzige schnelle Studie über das Busfahren in Rio werden, das ich liebe und das ein einmaliges Erlebnis ist, was einige von Euch vielleicht bestätigen können. Alle anderen dürfen, genauso wie ich gespannt auf das Ergebnis sein. Das zweite wird sich in noch nicht geklärter Form mit Jugendszenen in Rio beschäftigen. Dieses Projekt ist bei weitem umfangreicher und offener angelegt, wobei wir uns aufgrund der Zeit und der Realisationsschwierigkeiten voraussichtlich vorerst auf wenige Orte/Gruppen beschränken müssen um eine Art „Piloten“ herzustellen. Bei der Umsetzung und Gestaltung sind uns zwei Filmstudenten behilflich, die ich während der Filmveranstaltung >Favela im Film< kennengelernt habe. Rodrigo und Simone sind jung und arbeitswillig und haben aufgrund des andauernden Streiks an den staatlichen Unis gerade viel Zeit und lange Weile, was ihre fehlende Erfahrung wettmacht. Außerdem sind wir auf ihre Sichtweise zum Thema gespannt. Das Problem ist hier nach wie vor die Organisation und Koordination, denn Drehgenehmigungen sind hier immer mit Geld verbunden, Wege sind weiter und Vorsicht (Diebstahl) ist immer geboten. Zudem sind Kontakte hier zwar leichter zu machen, allerdings auch immer unzuverlässig, was ein effektives Arbeiten geradezu unmöglich macht. Diese Erfahrung durfte ich bei der Unterkunftssuche für Hans-Peter machen, als uns erst ein passables Angebot für ein Appartement in Ipanema gemacht wurde und kurz vor Vertragsabschluss einfach willkürlich die Miete erhöht wurde. Glücklicherweise fand sich zwei Tage später ein nettes Zimmer in der neuen Wohnung eines brasilianischen Bekannten (Dema), der noch einen Untermieter suchte und in das auch ich nach H.P.´s Abreise umziehen werde.
H.P. war sichtlich erfreut, wie man unschwer auf dem dazugehörigen Foto erkennen kann. So werden wir also in den nächsten Wochen alles versuchen und uns überraschen lassen, was dabei herauskommt.
Im Moment macht uns gerade leider das Wetter einen gehörigen Strich durch die Rechnung, denn die Wettergötter haben sich endlich dazu entschieden, das Energieproblem Rios anzugehen und mit Hilfe ununterbrochen Regens die Becken der Wasserkraftwerke zu füllen. Ich habe bereits beschlossen, die Stadt kurzfristig in "Frio de Janeiro" umzutaufen!!!
Wahrscheinlich wird sich der Sonnengott aber furchtbar rächen und zornig eine Hitzewelle hinterherschicken und uns zu neuen Meckereien anregen. Ihr seht ich befinde mich in einer Stadt der großen Unterschiede;-). Neben Beton und Menschenmassen findet man hier nämlich glücklicherweise auch unglaublich schöne Plätze mit ungeahnten Naturreserven. Einen kleinen Einblick bekamen wir letzten Samstag im „Sitio Burle Marx“. Roberto Burle Marx war einer der bekanntesten Landschaftsarchitekten hier und sein Anwesen vor den Toren Rios ist ein fantastischer Ort für einen Wochenendspaziergang, selbst bei Regenwetter. Am Sonntag waren H.P. (Agapé) und ich bei Klaus Vetter zu Besuch, der uns viel aus seinem bewegten Dokumentarfilmerleben erzählte, dass er neben oder während seiner Arbeit beim Goethe-Institut führt. Er hat somit Verständnis für unsere Vorhaben und lässt mir in nächster Zeit, wo es für mich eh nicht so viel im Institut zu tun gibt, freie Hand für unsere Vorhaben.
Ich werde Euch natürlich weiter auf dem Laufenden halten und hin und wieder ein paar Bildchen sehen lassen. Ich hab mich auch riesig über die zunehmende Bereitschaft gefreut sich am Bildertausch zu beteiligen. In jedem Falle freue ich mich weiter über jeden Gruß von Euch und wünsche Euch wie immer, und gerade wegen anhaltender Kriegsgeilheit und schwindender Gehirnmasse (klasse Foto Cousine!), viele, viele, viele kuschelige und FRIEDLICHE HERBSTSTUNDEN!!!


Muitos Beijos & Abraços de
Senhor Axel !

axel at November 2, 2001 05:09 PM

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