January 15, 2006

Brazine

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Brazine, the journal for brazilian culture in germanspeaking countries lances today my article about our research on streetfootball in São Paulo. I´m soooo proud ;-).

In their first edition of the year 2006 (Nr. 16), the brazine magazine decided to print a 5 pages article, I wrote for them about our time in São Paulo. If you like you can download the article as a PDF-Document (1,5MB):

brazine-article

Of course they had to edit my original text, which I wrote when I still was travelling in Brazil, because of the limited space they had. For all those who have enough time and patience, I post here the complete unedited text in German:

Kunst auf getretener Erde/ arte nas terras batidas

Ein Ball, zwei flinke Beine, bemüht mit den Füßen das runde Leder in der Luft zu halten, das Gesetz der Schwerkraft zu überwinden, in immer neuem Rhythmus auf die Erde stampfend, einen Tanz mit dem Ball aufführend. Ein Bild, das Lust am nachmachen weckt. Leicht ist es anzusehen und doch steckt eine unglaubliche Geschicklichkeit dahinter. Eine komplexe Leistung von Muskelkraft, Körpergefühl, Koordination und Improvisation. Ungebrochen ist die Faszination am Spiel mit Ball und Fuß, vielleicht weil es so simpel erscheint, aber auch weil es nur das kleinste Moment eines komplexen Systems ist, das alle Lebensbereiche unserer Gesellschaft durchdringt – das Fußballspiel. Wer kann von sich heutzutage behaupten, er könne sich diesem Phänomen, ob nun geliebt oder gehasst entziehen?
Wenn man Brasilianer ist, seit 12 Jahren in Berlin lebt, eine langjährige Tanzerfahrung hat und als Choreograf arbeitet, ist es geradezu eine logische Konsequenz, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, gerade jetzt wo die Fußballweltmeisterschaft nach über 30 Jahren wieder in Deutschland stattfindet. Und was liegt näher, als sich in dem Land auf die Suche nach der Faszination am Fußball zu machen, wo er wie in keinem Anderen so sehr zum täglichen Leben gehört – in Brasilien! So kam es, dass Aloisio Avaz alles daran setzte, die Recherche für den zweiten Teil seiner Trilogie zum Thema Tanz und Fußball in seiner Heimatstadt São Paulo durchzuführen. Unterstützt vom Goethe-Institut e.V. München flog er in Begleitung des Videokünstlers Marc Stephan nach Brasilien um fünf Wochen lang Erlebnisse und Material für sein Tanzstück zu sammeln – der Brasilianer aus Berlin, der nach langer Zeit mit einer konkreten Projektaufgabe in sein Heimatland zurückkehrt und der aus dem Ruhrgebiet stammende Deutsche, dessen Herz seit Kindesbeinen für den FC Schalke 04 schlägt und nun das erste Mal brasilianischen Boden betritt, das Land in dem der große Pelé geboren wurde. Es sind für mich die vielen kleinen Erlebnisse, die diese Zeit markieren, die schnell verflog und angefüllt war mit tagtäglich neuen Herausforderungen, Eindrücken und Erkenntnissen. Zu Beginn stand der unmögliche Versuch, anzukommen in einer gigantischen Metropole, die nie schläft – ein einziges Häusermeer, Auto- und Menschenmassen in die man hineingeworfen wird und in dessen Strom man mitschwimmt, unzähligen visuellen und akustischen Reizen ausgeliefert. Gleich am zweiten Tag unternahmen wir den langen Weg zu einem unserer Kontakte vor Ort – dem Büro des Repräsentanten der Organisation Rede Brasil 21, einem lokalen Netzwerk von diversen Straßenfußballprojekten, die wir im Laufe der folgenden Wochen besuchten. Schon dieser erste fast dreistündige Weg mit U-Bahn und Bussen, weg vom Zentrum der Stadt, hinaus in den Vorort Diadema war symptomatisch für den Aufenthalt: das Gefühl einer nicht enden wollenden Stadt an deren entlegensten Regionen, sich immer weiter ausdehnende Siedlungsgebiete erstrecken, in denen eine ganz andere Atmosphäre herrscht als zum Beispiel auf der Avenida Paulista, dem Praça da Sé oder im Ausgehviertel Vila Madalena. Dort auf den Fußballplätzen von Vila Alice (Municipio Diadema) oder Erundina (Bairro Jardim Ibirapueira) trafen wir auf die ballbegeisterten Kids um die es im Stück von Avaz gehen soll. Die Kids, die den Traum vom großen Fußball träumen, deren Lebensinhalt und Mittelpunkt die unzähligen Stunden auf dem Bolzplatz sind. Schon allein die Plätze glichen einem Bühnenbild: rote Erde, auf der Fußabdrücke unterschiedlichster Größe zu sehen waren, die Feldlinien grob mit Kreide markiert. Zwei Tore, ein paar Bänke am Rande, mit Glück eine Umzugskabine, Maschendrahtzäune, dahinter das Häusermeer in sich verschachtelter Backsteinwände am Berg gelegen oder sich unterhalb des Platzes weit in die Ebene ausdehnend. Natürlich fielen wir sofort auf: drei Besucher aus einer anderen Welt, zwei davon offensichtlich Fremde (Gringos), einer sogar von über 2m Körpergröße. Sofort bildete sich eine Traube von Jungs um den Riesenkerl mit der Kamera, die Fragen nach Herkunft und Absicht unseres Schaffens wollten immer wieder neu beantwortet werden. Nachdem klar war, dass wir weder Talentscouts großer europäischer Fußballklubs noch Reporter vom Fernsehen waren, sank die Begeisterung zwar etwas, aber die Lust das eigene Können zu zeigen und für die Kamera zu posieren war ungebrochen. Da wurde getrickst und gebolzt was das Zeug hält und natürlich die eingangs beschriebene Balljonglage vorgeführt und das mit einer Leichtigkeit, die uns die Münder vor Staunen offen stehen ließ. Später lieferte der ehemalige Fußballprofi Ivan Manoel de Oliviera, kurz „Badeco“ genannt eine schlüssige Erklärung für die Geschicklichkeit der brasilianischen Fußballer. Jeder von ihnen hätte auf den unebenen Bolzplätzen begonnen und da der Ball dort nun mal nicht immer so abspringt, wie gewünscht oder vorausgeplant, muss man einfach spontan und wendig sein, um ihn unter Kontrolle zu halten. Das ist sicher nur ein kleiner aber wesentlicher Grund, den der heutige Präsident einer Kooperative anführt, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, ihre langjährige Erfahrung und das gesammelte Wissen und Können an die nächste und übernächste Generation von jungen Spielern weiterzugeben. Craques de Sempre, heißt die Organisation von Ex-Profifußballern, die Fußballlehrer auf den Bolzplätzen (campinhos de várzea) São Paulos stellt, die täglich mit Jugendlichen im Alter von ca. 6 bis 17 Jahren trainieren. Insgesamt handelt es sich um ca. 40.000 Kinder und Jugendliche, die auf den Plätzen des Programms „Mais Esporte“ der Stadtverwaltung São Paulos Fußball spielen. Einer von ihnen ist im peripheren Stadtteil Jardim Ibirapueira gelegen. Hier geben Deodoro und ZumZum ihr Wissen an die Jungen weiter. Der Platz, der von dicht gebauten Häusern umgeben ist, ist nur ein Beispiel von vielen, wo die Besiedlungswelle an der Seiten- und Torauslinie halt gemacht hat – denn der Fußballplatz ist in den ärmeren Gebieten der Stadt heilig. Er ist nicht nur der Platz des Spiels und des Trainings, der Platz des Ballzaubers und der Freiraum für große Träume – er ist auch ein wichtiges soziales Zentrum der lokalen Gemeinschaft. Hier nahe der Favela Erundina gibt es einen kleinen überdachten Raum am Rande des Fußballfeldes, wo man tagsüber sitzen und Karten spielen kann, wo die Kids sich ihre von der Stadtverwaltung zur Verfügung gestellte Nahrungsgabe abholen können. Auf dem etwas klapprigen Fernseher wurde sicher auch schon das eine oder andere Fußballspiel gemeinsam verfolgt. Deodoro José Alameida Leite ist die absolute Respektperson dort. Der kräftige Ex-Spieler von Portuguesa regiert mit seiner reibeisenharten Stimme das Geschehen. Oft sieht man Deodoro am Rande des Spielfeldes, wie er Geschichten aus alten Zeiten weitergibt oder lautstark seine Meinung zu einem aktuellen Thema kundtut. Gerade in den sozialen Randgebieten der Stadt, wo raue Sitten herrschen und Gewalt ein Teil des täglichen Lebens ist, braucht es solche Menschen wie ihn, die mit dem was sie erlebt haben und ihrem Können, den Respekt der gesamten Gemeinde auf sich vereinen und mit unnachgiebiger Bestimmtheit aber auch väterlicher Güte, die Jugendlichen zu Höchstleistungen herausfordern. Immer verbunden mit dem Wissen um die eigene Herkunft und die Möglichkeit im Hinterkopf, das einer von den Jungs ja mal den großen Sprung in einen Profiklub schaffen könnte. Natürlich ist dieser Kampf um einen Platz in einer Profimannschaft heutzutage viel härter. Aber schon der Gedanke daran, einer von ihren Söhnen könnte es einmal zum Profispieler in einem der Erstligaklubs São Paulos bringen, lässt die Herzen ihrer Eltern höher schlagen, handelt es sich doch nach wie vor um die unglaubliche Chance, der materiellen Armut zu entkommen. Sicher gibt es den einen oder anderen Jungen, der es schafft, einen Job in einer nahen Industriefirma zu ergattern, aber jeder von ihnen würde alles dafür geben, mit seinem Spielerkönnen den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu bestreiten, abgesehen von dem Ruhm und der Ehre, vor einem großen Publikum zu brillieren. Schon allein die Tatsache, dass sich ein deutsch-brasilianisches Künstlerduo für sie interessiert, ist für die Jungs eine tolle Sache. Das Interesse des Choreografen, ihr Leben und ihre Träume näher kennen zu lernen und die allgegenwärtige Kamera Stephans gibt Aussicht auf Abwechslung und neue Perspektiven, was die sonst eher hoffnungslose Zukunft anbelangt. So ist selbst das hier eher unbekannte Feld des Theaters und des zeitgenössischen Tanzes für die Jugendlichen kein Hindernis und mit unerwarteter Offenheit und Experimentierfreude ließen sie sich auf die Zusammenarbeit mit den Künstlern ein. Eine Tatsache, die nicht selbstverständlich ist und laut Erzählung des Choreografen Avaz sind ähnlichen Versuche mit Jugendlichen Fußballern in Deutschland eher fehlgeschlagen. Hängt dies nun wirklich mit der sozialen Komponente zusammen, oder liegen Fußball und künstlerische Formen der körperlichen Bewegung in Brasilien viel näher beisammen als in Deutschland? Dies ist nur eine von vielen Fragen, die Avaz und Stephan gemeinsam mit einem professionellen Künstlerteam und den jungen Fußballspielern herausfinden wollen. Voraussetzung dafür ist es natürlich, die notwendige Unterstützung von brasilianischer Seite zu bekommen, um den Aufenthalt und die Mitarbeit der Jugendlichen an dem Projekt von Januar bis März 2006 in Berlin zu ermöglichen. Dass sie inhaltlich und künstlerisch ohne weiteres dazu in der Lage sind, haben die Künstler und vier der Jugendlichen bereits bei der abschließenden Präsentation des Recherchematerials im Goethe-Institut São Paulos bewiesen. Neben Impressionen aus dem Videomaterial Marc Stephans, das die Jugendlichen auch an zentralen Plätzen São Paulos bei Kostproben ihrer Ballkünste zeigt, wurde auch eine kleine erste Szene aufgeführt, an der Caubi, Anderson und Maicom aus Erundina sowie Karina Duarte, die amtierende Rekordhalterin im Fußballjonglieren mitwirkten. Im Gespräch mit den Künstlern und Repräsentanten der kooperierenden Fußballprojekte war zu spüren, wie viele offene Fragen es gibt, was das Zusammentreffen von Tanztheater und Fußball anbelangt. Ein Mitglied der Craques de Sempre-Kooperative, wies sehr treffend darauf hin, dass die Tatsache, dass ein Künstler heutzutage den Versuch unternimmt, den brasilianischen Fußball auf die Tanzbühne zu bringen nicht weit hergeholt ist. Vor ca. 100 Jahren war es ja der Fußball, der in Brasilien kurzzeitig an die Stelle des Kampftanzes Capoeira trat . Was die interkulturelle Ebene des Projektes anbelangt, bringt es der Videokünstler auf den Punkt. Nach seinen Erfahrungen während der Recherche befragt, stellt er heraus, dass er offen für alle neuen Eindrücke an die Arbeit gegangen sei und überall großes Interesse an seiner Person und seiner Arbeit erlebt hat und trotz der üblichen Sprachbarriere kein Problem hatte, sich mit den Jungs auf dem Platz zu verständigen – oftmals reichten einfache Gesten und Mimik aus, die jede Übersetzungsvermittlung überflüssig machten. Fußball und Tanz sind ebenfalls international verständliche Sprachen und daher wichtige Elemente der interkulturellen Kommunikation. Für Aloisio Avaz wird es sicher eine große künstlerische Herausforderung sein, ein Tanztheaterstück im Spannungsfeld von Fußballfeld und Bühne mit deutscher und brasilianischer Beteiligung inmitten der Vorbereitung zur Fußballweltmeisterschaft 2006 zu inszenieren.

axel at January 15, 2006 07:22 PM

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